Trump, Orwell und 1984

George Orwell und der nach ihm benannte Term „Orwellian “ sind gerade in aller Munde. Warum? Auf der einen Seite erscheinen in diesem Monat viele Neuausgaben seines Buches ‚1984‘, da die Rechte ausgelaufen sind und nun jeder den Text frei drucken und vertreiben darf. Auf der anderen Seite schreien Konservative in den USA seit Twitter und viele andere Social Media-Plattformen Trump gebannt oder gesperrt haben, das ja jetzt alles sei wie in 1984. Es sei alles „Orwellian“, sie würden in einem Unrechtsstaat mit Meinungsdiktatur leben, die keine freie Rede mehr zulasse.

Und natürlich wird George Orwell, der im 2. Weltkrieg gegen Nazis kämpfte und sich als Sozialist bezeichnete, hier wieder von der faschistischen Rechten manipuliert, die ihm schon nach Erscheinen seines Buches im Jahr 1949 unterstellte, dass es in seinem Buch eigentlich darum ging, die Folgen des Sozialismus aufzuzeigen.

Aber was bedeutet „Orwellian“ eigentlich? Und warum reiße ich mir jedes Mal Haare aus, wenn ich diese Formulierung in diesem Zusammenhang auch nur höre?

Das Cambridge Dictionary bietet folgende Definition des Begriffs an: „used to describe a political system in which the government tries to control every part of people’s lives, similar to that described in the novel “Nineteen Eighty Four”, by George Orwell “


1984: Alle Zahlen sind aus Stacheldraht geformt, die 8 wird aus einem Augenpaar gebildet

Es geht also darum, dass etwas in dem Ton von Orwells Schriften ist, besonders gemeint sind aber Charakteristiken der Gesellschaft oder der Regierung in seinem Buch 1984.

Worum geht es in ‘1984’?

Dementsprechend stellt sich die nächste Frage: Worum geht es in 1984? Diese Frage allein könnte einen gesamten Essay füllen. Sehr einfach gesagt geht es in 1984 um einen totalitären Staat, der im Wesentlichen dem Nachkriegsengland nachempfunden ist. Darin überwacht die herrschende Partei alle Bürger, aber Winston Smith, der selbst ein niedrig-rangiges Mitglied der Partei ist, möchte seine Privatsphäre schützen und die Wahrheit über seine Realität herausfinden. Er gerät in Konflikt mit dem Staat, der ihn schließlich foltert und sein Gehirn wäscht. Das Buch endet damit, dass Winston alle Glaubenssätze der Partei annimmt und sich selbst als glücklich wahrnimmt.

Orwells Buch ist dermaßen komplex und vielschichtig, dass ich schon als Jugendliche schnell erkannte, dass dieses Buch in seiner Gänze zu verstehen eine Mammutsaufgabe ist. Aber ich verstand genug, um die Gefahren, aber auch die Macht, die in dieser Warnung steckt, direkt zu erfassen und jedem, der es hören wollte, zu erklären:

Das einzige Buch, dass jeder gelesen haben sollte, ist 1984.

Nach den Ereignissen des versuchten Aufstands am Capitol in den USA möchte ich diesen Satz qualifizieren:

Das einzige Buch, dass jeder verstanden haben sollte, ist 1984.

Twitter, Sprechen und Denken

Denn entweder hat kein Mensch auf dieser vermaledeiten Plattform Twitter wirklich dieses Buch gelesen oder man erinnert sich nur ganz schwach daran, dass es in 1984 mal irgendwie um Überwachung und den Staat ging. Es geht aber eigentlich darum, dass die Partei Winston und allen anderen nicht die Möglichkeit nimmt, sich zu äußern. Jeder kann reden und jeder kann sich unterhalten. Die Partei nimmt ihren Untertanen die Möglichkeit, überhaupt kritische Gedanken zu formen.

Wenn man von „NeuSprech“ redet, geht es nicht (wie in vielen Fällen von deutschen Sprachpuristen behauptet) darum, dass neue Wörter erfunden werden oder sich ihre Bedeutung wandeln kann. Denn Sprache ist wandelbar und dieser Wandel lässt sich nicht einfach stoppen. Habe ich sogar schon in der Schule gelernt. Sondern es geht darum, die Sprache so weit zu simplifizieren, so weit auf ihre Bruchstücke zu reduzieren, dass gewisse Gedanken gar nicht mehr denkbar sind. Die Simplifizierung der Sprache engt das zu denken Mögliche ein. Dementsprechend soll nuanciertes Ausdrücken und komplexe Zusammenhänge so unmöglich gemacht werden, dass kritische Stimmen gar nicht mehr existieren können.

Dass dies im kompletten Gegenteil dazu steht die Sprache zu erweitern, wie es beispielsweise das Gendern oder inklusivere Sprache vorhat, juckt die meisten Kritiker eher weniger, es geht ja nur darum, dass „von oben“ etwas Sprachliches diktiert wäre, dementsprechend ist es „genau wie 1984“.

Fast schon ironisch, dass ein Punkt darüber, wie wichtig nuanciertes Denken ist, durch Unwissenheit und stumpfes Verweisen auf gruselige Bilder eines totalitären Staates, untergraben werden kann.

Trump wird behandelt wie in 1984?

Kommen wir jetzt aber zu Trump: Ist irgendwas an seinem Bann von Twitter orwellianisch?

Nun, man könnte darauf verweisen, dass der (ehem.) Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sich jederzeit an die Mitglieder der Presse wenden kann, die alles drucken und senden würden, was er zu sagen hat. Er ist eine der wichtigsten und zumindest die am meisten ausgestrahlte und besprochene Person der Welt. Ihm wird hier an keiner Stelle das Recht zur freien Meinungsäußerung „genommen“. Auf der anderen Seite wird natürlich mal wieder darüber diskutiert, wie frei Sprache sein darf und was man alles sagen darf. Und da kann ich kopfschüttelnd nur immer wieder betonen, dass man immer noch alles sagen darf. Man muss nur mit den Konsequenzen klarkommen.

In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass viele auch meinen, wenn Trump nicht mehr ungestraft Lügen und Falschinformationen verbreiten kann, wäre es der Untergang der freien Meinungsäußerung. Absoluter Bullshit, denn freie Meinungsäußerung kann es nur geben, wenn wir uns einig darüber sind, dass es keine Meinung ist, wenn man die Rechte und das Leben anderer Menschen oder Gruppen von Menschen angreift. Poppers Theorie der Intoleranz der Intoleranten beschreibt genau diesen Zusammenhang.

Auf der anderen Seite muss erwähnt werden, dass Twitter, Facebook, Instagram, YouTube und Co. schon seit Ewigkeiten linke Aktivist*innen extrem gängeln, immer wieder grundlos sperren und rigoros ihre Regeln anwenden. Rechte Meinungen waren bisher immer ein wenig außen vor. Und wieso: Sie generieren auf der einen Seite Zuspruch und auf der anderen Seite massive Kritik, die sich aber nur in Klicks und dementsprechend viel Geld widerspiegelt. Es ist zu lukrativ, um es einzustampfen. Bis jetzt.

Die Freiheit … wozu?

Außerdem sei darauf hingewiesen, dass Trump lügt. Und zwar ständig. Dauernd und überall. Die Freiheit, die George Orwell in seinem Buch immer wieder betont, ist die Freiheit, die Wahrheit auszusprechen. 1984 ist grandios darin, seinen Protagonisten eine Wahrheit finden zu lassen, die sich wenig später als ein doppelter Boden herausstellt, denn auch diese ist von der Partei zurechtgeschnitten und präsentiert worden, um seine Reaktionen und seine Loyalität zu testen. Die Szene am Ende des Buches ist diejenige, die sich wohl den meisten Leser*innen am meisten einbrennt: „Freiheit ist zu sagen, dass 2+2=4 ist.“ Und Winstons Kapitulation am Ende und seiner Akzeptanz der neuen Tatsache, dass 2+2 AUCH gleich 5 ist, ist immer wieder haaresträubend. Dementsprechend die Aussage zu tätigen, es sei orwellianisch, wenn ein Präsident vom wiederholten Lügen abgehalten wird, ist bestenfalls uninformiert und schlimmstenfalls eine so drastische und dreiste Diskursverschiebung, dass einer*m die Spucke wegbleibt.

Bei DoppelDenk geht es um das “doppelt”

Viel spannender ist eigentlich, dass Trumps „Fake News“ als eine Art Geschichtsrevision der Gegenwart dargestellt werden kann. Winston arbeitet für die Partei, in dem er historische Ereignisse so umschreibt, wie sie gerade von der Partei vorgegeben werden. Es scheint durch, dass niemand so wirklich weiß, was denn nun passiert ist. Durch Trumps dauerndes Wiederholen von „Fake News“ und seinen gegenübergestellten „Fakten“ präsentiert er quasi eine instantane Gegenwartsrevision, die seinen Unterstützern eine zweite Gegenwart aufzeigt. Zu diesem Thema empfehle ich diesen wundervollen Artikel von 54books.com.

Dort wird nämlich auch aufgezeigt, dass „Alternative Facts“ kein „DoppelDenk“ bedeuten. DoppelDenk stammt ebenfalls aus 1984 und bedeutet, dass man zwischen zwei gleichzeitig bestehenden Wahrheiten im Kopf hin- und herspringen kann, beide aber gleichzeitig als wahr und richtig ansehen kann. Hier zeigt sich die ganze Perfidität, denn dies muss nicht nur gesagt, sondern auch geglaubt werden. Und genau hier zeigt sich die Spanne zwischen dem, was großteils von Orwell verstanden wird und was eigentlich gemeint ist.

Im Kopf bleibt: Ah, man muss aufpassen, was die Partei von einem Hören will. Meine Gedanken habe ich aber trotzdem noch.

Im Kopf sollte bleiben: Die Bewohner dieses Staates werden nicht über irgendwelche äußeren Einflüsse kontrolliert. Sie kontrollieren sich selbst durch ihren eigenen Gedanken.

Die Gedanken sind (nicht) frei

Die gesamte Geschichte dreht sich nur darum, dass die Gedanken des Menschen nicht mehr frei sind, ebenfalls von der Partei kontrolliert werden und sich deshalb niemals Widerstand formen kann, denn die Menschen sind literally nicht mehr in der Lage, Widerstand auch nur zu denken. Das ist das perfide an der ganzen Sache. Nicht allein der Überwachungsstaat (es wird mehrmals erklärt, wie einfach man den allsehenden Augen von „Big Brother“ entgehen kann) oder die Folter oder die Wahrheitsfindung, die nur mehr Lügen aufdeckt. Es geht darum, die ein ganzer Staat gehirngewaschen werden kann.

Genau dies wird deutlich, wenn man sich das Konzept des Gedankenverbrechens ansieht, dass es als Staatsverbrechen ansieht, wenn man Gedanken hegt, die sich gegen die Linie der Partei richten, oder Emotionen auf seinem Gesicht zeigt, die zu einem bestimmten Anlass nicht gefordert wurden.

Wir halten also fest: Nichts an dem Bann Trumps oder anderer rechter Meinungsmacher*innen ist in irgendeiner Weise orwellianisch. Viel mehr wird der Begriff mittlerweile so sehr missbraucht, dass man alles unter ihm verstehen kann, was auch nur vage an Überwachung oder Totalitarismus erinnert. Ich hoffe, dass man an diesem Beispiel nicht in Echtzeit sehen kann, wie ein Begriff entwertet und fast zum Gegenteil seiner eigentlichen Bedeutung erklärt wird. Allein dadurch, dass es immer und immer und immer wieder wiederholt wird, bis es sich in den Köpfen der Menschen nicht mehr auseinanderhalten lässt. Wenn ich abschließend im Zusammenhang der Gehirnwäsche sehe, wie viele Leute in den USA sich QAnon anschließen, wie viele dieser wahnsinnigen Internetsekte hinterherlaufen und so schnell zwischen Positionen hin- und herswitchen, wie sie es eben müssen, damit ihre Illusion eines starken Kämpfers Trump erhalten bleibt, dann erinnert mich das sehr viel mehr an DoppelDenk als alles andere, was in den letzten Monaten in diesem Zusammenhang als orwellianisch betitelt wurde.

 

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