CN: Diskussionen über Rassismus und Sklaverei
Wie so viele andere habe auch ich das Wochenende genutzt, um mir die gefilmte Version des Musicals „Hamilton“ aus Disney+ anzusehen und habe mich sofort in die Umsetzung, die neue Art von Musical und die Darsteller und ihre schiere Liebe zur eigenen Kunst verliebt.
Einen Tag später habe ich die Playlist – vor allem aber die Lieder mit König George III. von Großbrittanien – rauf und runter gehört und mich auch im Twitteraccount seines Erschaffers und Komponisten Lin-Manuel Miranda festgelesen. Dieser enthält eine Art Livebesprechung des Stücks, an dem Tag, an dem es offiziell auf Disney+ erschien.
Dabei viel mir auch ein Tweet ins Auge, der das eine schlechte Gefühl zusammenfasste, was ich beim Schauen des Musicals bekam: Ich schaue da gerade ein Musical über Sklavenhalter und liebe es absolut. Sollte das so sein?
Dieser Tweet, auf den Lin-Manuel Miranda übrigens mit der Aussage reagierte, dass er alle Komplexitäten und Fehler der historischen Persönlichkeiten natürlich nicht in 2,5 Stunden abbilden konnte, aber sein Bestes gegeben habe und die Kritik an dem Stück „fair game“ sei, führte mich auf eine noch größere Suche nach Kritik und Meinungen, denn ich fühlte mich nicht fähig, nur auf Grundlage des Musicals selbst eine Meinung zu fällen.
Aber worum geht es in Hamilton eigentlich?
Alexander Hamilton war im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg unter George Washington angestellt, einer der Gründerväter der USA und ihr erster Finanzminister. Und sein Leben dient als Grundlage für das Musical „Hamilton“, welches sich im ersten Akt großteils mit dem Unabhängigkeitskrieg beschäftigt und im zweiten Teil damit, wie er danach den USA zu dienen versuchte und wie ein politischer und persönlicher Streit schließlich dazu führte, dass er in einem Duell erschossen wurde.
Ich habe das Musical sehr geliebt und war über fast 3 Stunden gefesselt von allem, was dort passierte und wie die Geschichte sich entspann. Um hier die Übersicht darüber zu geben, was dieser Artikel tun wird, damit wir uns nicht in einer Schlammlawine ungeordneter Gedanken wiederfinden:
Ich werde zuerst erzählen, was mich nach der Recherche sehr erstaunt hat, was die Kritikpunkte sind und wie ich aber doch glaube, dass man „Hamilton“ sehr gut konsumieren kann. Und natürlich gibt es heftigste Spoiler, anders kann ich hier gar nichts besprechen.Ich werde zuerst erzählen, was mich nach der Recherche sehr erstaunt hat, was die Kritikpunkte sind und wie ich aber doch glaube, dass man „Hamilton“ sehr gut konsumieren kann. Und natürlich gibt es heftigste Spoiler, anders kann ich hier gar nichts besprechen.
Was natürlich bei einem Musical nicht erstaunen sollte, ist, dass viele der historischen Ereignisse sehr verkürzt dargestellt wurden oder sogar komplett umgeschrieben wurden, um dem Musical mehr Emotionen zu verleihen und es mehr wie eine Geschichte und nicht zufällige Ereignisse aussehen zu lassen.
Beispielsweise war Angelica Schuyler, die Schwester der Frau Hamiltons, öffentlich schon sehr flirty mit Hamilton, aber zum Zeitpunkt an dem sie ihn traf, schon verheiratet, dementsprechend ist ihre Sehnsucht nach einer eigenen Heirat mit Alexander absolut erfunden.
Ebenso, dass Hamilton sich öffentlich und überhaupt gegen Sklaverei ausgesprochen hätte. John Laurens beispielsweise war gar nicht dafür, Sklaverei definitiv für alle abzuschaffen, sondern nur Schwarze Männer im Krieg im Austausch gegen ihre Freiheit kämpfen zu lassen.
Auch viele kleinere Details sind gebogen, verbogen und für das Stück zurecht erdacht, zum Beispiel dass sich Aaron Burr und Hamilton immer wieder über den Weg zu laufen scheinen und er sogar zu seiner Hochzeit eingeladen wurde. Burr war nie „one of the boys“ und seine Niederlage gegen Thomas Jefferson war auch nicht nur allein Hamilton zu verdanken, dieser hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr den Einfluss, eine Präsidentschaft entscheiden zu können.
Ihr merkt, ausgeschrieben wirkt das alles wirklich wie das langweiligste Musical unter der Sonne. Ist es aber definitiv nicht.
Die Kritikpunkte, die sich nun auch im Zuge der #BlackLivesMatter-Bewegung ergeben haben, sind offensichtlich folgende: Ziemlich viele der Gründerväter waren vehemente Rassisten, Sklavenhalter und ihre Ansicht von Menschenrechten beschränkte sich sehr stark auf weiße oder zumindest weiß aussehende Männer. Gerade Thomas Jefferson und George Washington besaßen Sklaven und sahen diese definitiv nicht als Menschen mit den gleichen Rechten wie weiße an. Sollte man deshalb ein sehr erfolgreiches Musical haben, in denen gerade diese Menschen als cool und als Helden dargestellt werden?
Ich selbst fand die Aussage immer relativ bescheuert, nach denen Menschen in ihrer jeweiligen Zeit und dem vorherrschenden Mindset betrachten sollten. Aber weil wir in so unfassbar schnellen Zeiten leben, ist mir Folgendes aufgefallen: Das Hamilton-Musical wurde 2015 uraufgeführt und im Vergleich zum heutigen Diskurs gestaltet sich die Aufnahme des Musicals aus 2016 heute vor allem für Menschen, die es zum ersten Mal sehen, sehr anders. Wir haben alle einen anderen Blick auf gewisse Ereignisse und Rassismen entwickelt, der sich dank unermüdlichem Aktivismus entwickelt hat und durch die Geschehnisse in den USA noch mal verschärft hat.
Dementsprechend wird Hamilton nun mit einer anderen Kritik leben müssen, die es 2016 in dieser Form noch nicht gab – zumindest nicht großflächig und mit viel Reichweite. Und auch weil immer wieder dieselbe Debatte darum geführt wird, die man mit problematischer Kunst umgehen sollte (Nein, Cancel Culture ist nicht gemeint, Karen) dachte ich, ich schmeiße mich mal kopfüber in eine Debatte, in der ich erstmals wirklich sehr involviert bin, weil ich Hamilton vorher noch nicht kannte, es aber unfassbar liebe. (Bitte nicht damit verwechseln, dass ich von Rassismus betroffen bin. Bin ich nicht und ich habe auch keine Autorität, über seine individuellen Auswirkungen auf Schwarze Menschen zu sprechen.)
Ich möchte hier also darüber sprechen, dass man auch bei solchen Dingen differenziert darauf schauen muss, was hier eigentlich passiert und wie mit den historischen Figuren umgegangen wird, bevor man sich dazu entscheidet, es zu meiden oder eben nicht.
Was eine der größten Errungenschaften von Hamilton ist: Fast der gesamte Cast besteht aus BlPoC (Black and People of Color), nur der englische König (die ohne Zweifel weißeste Person in diesem Zusammenhang) ist mit einem weißen Schauspieler besetzt worden, obwohl eigentlich alle vorkommenden Personen weiß waren. Es beweist, dass auch Schwarze Menschen weiße historische Personen spielen und verkörpern können, ohne dass das Publikum es nicht mehr ernstnehmen kann oder sich abwendet. Die zweite große Errungenschaft ist seine für das Musical neuartige Form und den Musikmix, der sich großteils durch mehrere Formen und Arten von Rap auszeichnet. Natürlich sind viele skeptisch, wenn sie hören, dass es rappende Gründungsväter geben soll, die ihre Kabinettssitzungen durch Rap Battles austragen. Aber es funktioniert. Und es funktioniert unfassbar gut.
Ich habe einen Kommentar gelesen, der es für mich sehr gut zusammenfasst: „Hamilton“ ist eine Fanfiction. Die mehr kann als eine Fanfiction.
„Hamilton“ nimmt sich viele Freiheiten in seiner Ausführung und Rezeption, Hamilton selbst spricht sich immer wieder gegen Sklaverei aus und John Laurens ist auf einmal komplett gegen die Sklaverei, viele Charaktere haben andere Charakterzüge oder größeren oder kleineren Einfluss, als sie eigentlich hatten.
Natürlich ist kein Theaterstück, welches auf historischen Tatsachen beruht, tatsächlich in allen Dingen historisch korrekt. Eher im Gegenteil, viele nehmen sich noch viel größere Freiheiten, als „Hamilton“ es tatsächlich getan hat.
Außerdem ist „Hamilton“ eine weitere Art, sich mit historischen Figuren überhaupt erst einmal auseinanderzusetzen. Gerade in den USA herrscht ein regelrechter Kult um die Gründungsväter, sie sind ja sogar in einen Berg eingraviert worden (der übrigens eigentlich Ureinwohnern zugesichert wurde). Eine so offene Besprechung dieser Gründungsväter wird auch dazu führen, dass die Leute ein neues Bewusstsein für sie bekommen, sie mit anderen Augen und nicht mehr als die ätherischen Helden sehen, die sie sonst darstellen.
„Hamilton“ stellt außerdem keine Helden dar. Es ist sogar ein Paradox: BlPoC kämpfen als Gründungsväter in einem Krieg darum, das System zu erhalten, welches sie bis heute unterdrückt. Eine Ironie des Schicksals und doch eine wahnsinnig gute Finte und etwas, was jeden zum Nachdenken bringt. Weder Hamilton, Jefferson, Washington oder alle anderen Figuren werden jemals als komplette Helden dargestellt, sie haben alle Fehler, sind rassistisch, fallen und haben in keiner Weise reine Westen.
Klar, es gibt Szenen, die die Errungenschaften des Unabhängigkeitskrieges feiern sollen, aber für mich war es niemals ein Feiern nur dieser Charaktere und Persönlichkeiten, sondern eher eine Erinnerung daran, dass die USA eigentlich immer eine Nation vieler Kulturen ist und war, sich auch immer selbst so bezeichnete und trotzdem unglaublich viele Probleme hat, wenn es darum geht, allen gleiche Rechte zu gewähren.
Im Stück wird auch immer wieder darauf verwiesen, dass es doch die Immigranten sind, die Amerika Stück für Stück aufgebaut haben („Immigrants, we get the job done!“ – referenziert hier Hamilton und Lafayette) und auch wenn es keine historisch korrekten Einordnungen sind, die die volle Verfehlungen darstellen, sie sind enthalten und stellen niemanden auf ein Podest.
Außerdem hat das Stück noch einen großen anderen Punkt, den Washington in „History Has Its Eyes On You“ anspricht: Niemand der hier behandelten Männer kann kontrollieren, wie sie in den Geschichtsbüchern wegkommen. Niemand von ihnen wird kontrollieren können, wie ihre Errungenschaften und Verfehlungen aufgenommen werden und das Stück referenziert sich damit und unsere Gesellschaft auch selbst. Denn Washington (und später auch Elizabeth Schuyler in „Burn“) befassen sich damit, das Beste zu tun und dass es wahrscheinlich doch nicht genug sein kann. In Elizabeths Fall nimmt sie ihre eigene Rezeption sogar in die Hand, indem sie ihre Briefkonversation mit Alexander verbrennt, damit sie nicht mehr als Nebencharakter in seiner Geschichte verwendet werden kann und Historiker sich über sie und ihre Reaktionen wundern sollen.
Das letzte, was ich ansprechen möchte, ist die Behandlung, die Aaron Burr wiederfährt, denn er schien zu Lebzeiten seine wahren Überzeugungen oft im Geheimen zu halten, was auch im Stück zu dem bekannten Satz: „If you stand for nothing, Burr, what will you fall for?“ führt. Burr sagt Hamilton, er solle weniger reden, mehr lächeln und sich somit mehr Dinge offenhalten und sich selbst an erster Stelle sehen. Hamilton kann das nicht fassen und setzt sich über diesen Ratschlag sehr lange immer wieder hinweg. Dieses Theme tauch immer wieder auf und Aaron Burrs Geschichte ist für mich ein klarer Hinweis darauf, dass man sich lieber für die Dinge einsetzen soll, die einem wichtig erscheinen, anstatt sich zurückzulehnen. Das Musical zeigt sehr deutlich, dass man lieber aktiv gegen oder für etwas stehen soll (wie Hamilton) anstatt passiv für gar nichts und alles gleichzeitig zu stehen und seine Meinung dauernd zu ändern (wie Burr). Dies ist gerade in diesen Zeiten von immer polarisierenden Meinungen sehr wichtig und eine unfassbar wichtige Nachricht für alle, die sich diesen Film oder das Musical anschauen.
Ich finde, dass uns diese schwierige Debatte von einem sehr guten und gleichzeitig problematischen Stück Kunst neue Argumente und Ansichten dazu geben kann, wie man den Umgang mit eben solchen gestalten kann und sollte. Denn alle Stücke werden irgendwo problematisch sein, manche mehr und manche weniger. Es geht für mich jetzt immer darum zu entscheiden, inwiefern Absicht in diese Problematiken miteingeflossen ist, inwiefern auch die Erschaffer der Kunst zu Kritik an ihren Werken bereit sind (gute Beispiele sind Rick Riordan und Lin-Manuel Miranda) und welche guten Werte und Möglichkeiten durch diese Stücke vermittelt werden können oder entstehen können. Dies abzuwägen ist nicht ganz einfach, eine differenzierte Auseinandersetzung mit Gesellschaft und der gegenseitigen Wechselwirkung derer und von Kunst. Es ist wesentlich komplizierter, sich mit den problematischen Teilen von Kunst auseinanderzusetzen und sie mit diesem neuen Wissen immer noch zu mögen, als sie einfach blind zu lieben und jede Kritik daran wegzuwischen. Genauso gilt das aber auch umgekehrt für blinden Hass. Ich denke, ich habe für mich gerade diesen Prozess gestartet und werde sehen, wo er mich hinführt und was ich dabei für mich selbst und andere mitnehmen kann.
Abschließend finde ich, dass man sich „Hamilton“ definitiv anschauen sollte, wenn man es möchte. Die Musik und die Schauspieler und auch das Bühnenbild sind fantastisch, decken viele Themen ab und es hat mich zweimal zum Weinen gebracht. Die Auseinandersetzung mit den historischen Figuren kann und muss kritisiert werden, aber es schafft ein neues historisches Bewusstsein, ist nicht zu ernst mit sich selbst, positioniert sich klar selbst in einer modernen politischen Landschaft und vergöttert seine Charaktere kein bisschen, sondern zeigt eher ihre menschliche Seite, die historisch gerne ausgeblendet wird.
Was denkt ihr zu der ganzen Sache? Wie seht ihr „Hamilton“ und mögt ihr es? Und wie ist eure Meinung zum Zusammenhang zwischen dem Musical und #BlackLivesMatter?