Ich habe das Vergnügen, euch heute 2 unfassbar gelungene Comics vorzustellen, die beide in den letzten Wochen erschienen sind. Sie sind absolut verschieden, aber trotzdem beide aus dem Hause Reprodukt und umwerfend!
Es geht in einem um die gesellschaftliche Wahrnehmung einer jungen Frau und wie sie aus dieser ausbricht, in dem anderen geht es um zwei junge Frauen und deren teilweise übernatürlicher Trip durch ein verschneites Texas. Warum mir beide so gut gefallen haben, gibt es jetzt in einer Rezension!
Bibliographische Daten – “Die Bluse”
- Autor: Bastien Vivés
- Genre: Comic, Slice of Life
- Verlag: Reprodukt
- Übersetzer: Andreas G. Förster
- Seitenzahl: 204 S.
- ISBN: 978-3-95640-185-5
Bibliographische Daten – “West, West Texas”
- Autorin: Tillie Walden
- Genre: Comic, Magic Realism
- Verlag: Reprodukt
- Übersetzerin: Barbara König
- Seitenzahl: 310 S.
- ISBN: 978-3-95640-195-4
Vielen Dank an den Reprodukt-Verlag für die Bereitstellung der Rezensionsexemplare!
Kurzbeschreibung – “Die Bluse”
Séverine studiert Literaturwissenschaft in Paris und wohnt zusammen mit ihrem Freund Thomas, der mehr Zeit mit Computerspielen und TV-Serien verbringt als mit ihr. Offenbar hat sie sich eingerichtet in ihrem monotonen Leben, das sie eher erduldet denn gestaltet. Bis eine geliehene Bluse ihr Leben verändert: Plötzlich wird sie von aller Welt mit anderen Augen wahrgenommen, Männer sehen sie voller Verlangen an, und sie lässt sich bereitwillig auf Abenteuer ein. Es ist, als würde die Bluse ihr magische Kräfte verleihen und sie aus einem langen Schlaf wecken. Séverine taucht ein in ein Leben, das vor allem einen folgt: dem Lustprinzip.
Eigene Meinung
Ich hatte tatsächlich hohe Erwartungen an diesen Comic, weil er mir total angepriesen wurde und konnte es nicht erwarten, mich in diesen hineinzustürzen.
Die Protagonistin und ihr Freund erinnerten mich tatsächlich sehr an meinen Freund und mich. Die Beziehung wirkt zu Anfang noch friedlich mit den beiden, die sich darum kümmern, wo sie zu essen bestellen und welche Filme sie schauen wollen. Allerdings merkt man schnell, dass Séverine sich in diesem Leben und vor allem dann unwohl fühlt, wenn die Freunde ihres Freundes einen Abend lang bleiben und sich nur über Spiele unterhalten. Séverine möchte auch in ihrem Studium weiterkommen, sie möchte sich nicht die ganze Zeit auf der Stelle fühlen.
Da geschieht ihr beim Babysitten ein Missgeschick und sie bekommt eine hochwertige Bluse geliehen, die sie sofort in den Augen von Männern verändert. Sie wird anders wahrgenommen und merkt dies auch sehr schnell selbst und beginnt sich in ein Leben zu stürzen das aus Verführung und schnellen Entscheidungen besteht.
Endlos faszinierend war der schwarz-weiße Stil, der fast gar nicht von anderen Farben unterbrochen wird, denn dieser schafft es nur durch de Figuren und ihre Gesichtsausdrücke alle benötigten Emotionen zu erzielen. Man kann außerdem sehen, dass der Zeichenstil aus nicht allzu vielen Linien besteht und ähnelt insgesamt einer Skizze, der man aber trotzdem ansieht, dass sie eben keine ist. Faszinierend und definitiv anders von vielen anderen Comics.
Diese Geschichte bewegt sich auch nicht nur in seichten Gewässern, wie man es vielleicht erwarten könnte. Man könnte eher meinen, dass diese Geschichte sich stetig in einer Abwärtsspirale befindet, aus der man sich nicht entziehen kann. Die Ereignisse werden immer skurriler, immer unvorhergesehener und überraschen den Leser immer mehr. Dadurch konnte man sich von dem Comic absolut nicht losreißen.
Gerade das Ende hat mich absolut geschockt. Man kann durch eine clevere Metapher an dem Stand von Séverines Bluse, die immer dreckiger und zerrissener wird, auch den moralischen und inneren Zustand von Séverine ansehen. Dies wird am Ende sehr deutlich, das ich natürlich nicht spoilern will, aber Séverine wird quasi abhängig von der Weise, wie sie durch die Bluse angesehen wird, sodass sie sich auch niemals von ihr trennen will und sie beim Sex anlassen muss.
Das Ende ist absolut schockierend, vor allem, weil man es nicht kommen sieht aber es doch perfekt in die Abwärtsspirale passt, die das Buch immer und immer wieder aufmacht. Gerade das hat mich sehr fasziniert!
Fazit
Ich konnte “Die Bluse” nicht aus der Hand legen und fand es trotz seiner doch irrationalen Geschichte und Charakteren höchst faszinierend, wie der Autor messerscharf durch gesellschaftliche Wahrnehmungen und Phänomene jagt und diese sowohl bildlich als auch durch den Dialog so gut beschreibt, dass man auch den teilweise großen Subtext komplett nachvollziehen kann und sich trotz Verwirrung und auch Abscheu durch die sehr guten Beobachtungen fliegt und sich nicht losreißen kann.
Kurzbeschreibung – “West, West Texas”
BEA ist von zu Hause abgehauen – ohne Auto, ohne Plan. An einer Raststätte im texanischen Nirgendwo trifft sie auf Lou, und bald finden die zwei jungen Frauen sich auf einem gemeinsamen Roadtrip wieder. Doch seit sie eine entlaufene Katze an Bord geholt haben, passieren merkwürdige Dinge: Das Wetter spielt verrückt, zwei unheimliche Männer verfolgen sie, und während sich die Landschaft um sie herum zu einer surrealen Welt verformt, fahren die beiden immer weiter – auf der Suche nach einer Stadt, die auf keiner Karte existiert.
Eigene Meinung
Von Tillie Walden hatte ich durch ihr Debüt “Pirouetten” gehört, welches auch hier in Deutschland relativ große Resonanz erzeugen konnte. Allerdings war dies autobiographisch und als ich erfuhr, dass sie nun etwas geschrieben hatte, was zwar durch Texas autobiographisch angehaucht war, aber auch Magic Realism enthielt, war meine Neugier, aber auch meine Vorsicht ein wenig geweckt.
Mein Fazit: Sie kann es! So unendlich gut!
Tillie Walden bringt in diesem Comic nicht nur zwei Charaktere zusammen, die einander gut zur Seite stehen können, sondern sie sind auch noch in wenigen Seiten dem Leser ans Herz gewachsen.
Während Bea und Lou sich treffen und beschließen, gemeinsam durch den rauen Westen von Texas zu fahren, wird der Leser direkt mit tollen und magisch gezeichneten Kulissen überhäuft. Schöne Schneelandschaften, das Innere eines Baues, endlose Straßen und vergessene Dörfer warten darauf, erkundet zu werden.
Dabei sind die Zeichnungen meist dunkel, düster und vermitteln eine Stimmung, die gut zu verschneiten Winternächten un den verborgenen Problemen der Protagonistinnen passt. Ein wenig kindlich und doch erwachsen. Eine exzellente Szenerie für diesen Comic!
Die Themen in diesem Comic reichen von Einsamkeit über Verlust und Sexualität, bis hin zu Geborgenheit, einer neuen Freundschaft und dem Finden eines neuen Selbst. Ich finde es absolut faszinierend wie viel Platz und Raum zum Entfalten beide Charaktere kriegen auf diesem Trip, der fast nur aus ihnen und ihrer Angst, im Nirgendwo anzukommen, besteht.
Auch wenn Walden einige Dinge unausgesprochen oder nicht behandelt lässt, so werden viele Dinge, die die Charaktere mit sich herumschleppen, sehr klar für den Leser und man kann unfassbar mitfühlen.
Relativ zu Anfang finden die beiden Protagonistinnen eine Katze, die sie Diamond nennen. Allerdings scheint diese nicht in der Nähe ihres Zuhauses zu sein und so retten die beiden sie aus dem kalten Schnee und wollen sie in ihre Zuhause bringen: West, West Texas.
Bei dieser Reise werden sie mit allerhand seltsamen Phänomenen überschüttet, die allerdings nicht komisch wirken, sondern die Atmosphäre und die Bedeutung des Comics nur erhöhen und ihm eine mystische Ader verleihen, die alles am Ende besser zusammenpassen lässt, obwohl nicht viel abschließend erklärt wird!
Auch die sensiblen Themen und der emotionale Ballast der beiden Figuren konnte mich tief berühren, denn um die Auflösung und das Ende der Geschichte dreht sich der gesamte Plot, der den Leser zwar verwirrt, aber trotzdem mit einem guten Gefühl abschließen lässt, dass den Charakteren sehr viel Ballast genommen wurde.
Fazit
Ein faszinierend gezeichneter Comic, der sich teilweise in die Welt des Magic Realism vorwagt und sich durch seine starken Kontraste und dunklen aber trotzdem farbenfrohen Panels von anderen Comics abhebt. Die Erlebnisse der beiden Frauen werden durch das Erlebte verarbeitet, der Leser muss sich aber trotzdem durch Subtext und Andeutungen wühlen, um den Comic richtig wertschätzen zu können. Ich liebe die Andeutungen der Katze und vor allem das Ende und wie es sich in den Anfang der Geschichte fügt. Ein großartiges und genau richtig langes Werk!